Tanz die Kunst!

1. August 2011
Isaac JulIen: "Ten Thousand Waves", Foto: Hugo Glendinning, © Kunstsammlung NRW

Isaac Julien: „Ten Thousand Waves“, Foto: Hugo Glendinning, © Kunstsammlung NRW

Kennen Sie diese Bassins für Kinder, die mit bunten Plastikbällen gefüllt sind? Die Kleinen haben einen Heidenspaß darin und sehen dabei auch noch süß aus. Ein Erwachsener dagegen würde darin etwas befremdlich wirken. Wenn Sie jedoch zu den Menschen gehören, die trotzdem gerne mal reinspringen würden, dann sind Sie nun in K20 an der richtigen Stelle. Und wenn nicht, dann erst recht. In der aktuellen Ausstellung MOVE. Kunst und Tanz seit den 60ern werden Sie, egal welchen Alters und körperlicher Verfassung, nicht nur Spaß ohne Ende haben, sondern diesen auch noch K20-hoch künstlerisch legitimieren können.

Es gibt Inhalte, die trotz interaktiv gestalteter Museen trotzdem irgendwie lebensfern bleiben, weil sie den Besucher einfach nicht betreffen. Was aber kann es Treffenderes geben, als eine Ausstellung über die Bewegung des menschlichen Körpers? Niemand könnte behaupten, er hätte keinen Bezug dazu, denn einen Körper unterhält schließlich jeder. Die Ausstellung MOVE ist nach Allan Kaprows Ansatz daher so konzipiert, dass es keine Zuschauer mehr gibt, sondern nur noch Teilnehmer. Selbst das Wachpersonal freut sich, dass es nicht immer „bitte nicht anfassen“ sagen muss, sondern aktiv in die Anleitung der Besucher einbezogen wird.

Ein Beispiel für die zu entdeckenden Installationen ist A casa è ocorpo. Penetração, ovulação, germinação, expulsão (dt.: Das Haus ist der Körper. Penetration, Eisprung, Keimung, Austreibung, 1968) der bereits verstorbenen Brasilianerin Lygia Clark. Sie lässt den Teilnehmer auf buchstäblich einfühlsame Weise den vierteiligen Prozess der Schwangerschaft nachvollziehen (vielleicht eine gute Gelegenheit, Ihr Kind aufzuklären). Als personifiziertes Spermium wird der Teilnehmer in vier Phasen zunächst durch einen dunklen „Vorraum“ mit weichem Boden voller Luftballons – die fruchtbaren Eier – weiter zum zu befruchtenden Ei geführt. Am Ausgang hält sich, neben den eingangs erwähnten Bällen, noch eine, für manche erfreuliche, für manche vielleicht nicht so gefällige Überraschung bereit. Oder probieren Sie sich auf den Körperraumbewegungsdingen (1971/2010) aus. Robert Morris bietet hierzu die „partizipativen Objekte“ Wippe (bodyspacemotionthings (See-saw)) und Stamm (bodyspacemotionthings (Log)) an.

Weiter im Körpergefühl geht es mit Adaption: Test Room Containing Multiple Stimuli Known to Elicit Curiosity and Manipulatory Responses (dt.: Anpassung: Untersuchungsraum mit multiplen Stimuli, die bekanntermaßen Neugier und Manipulationsreaktionen hervorrufen, 1999/2010) von Mike Kelley. Der Raum wurde zum einen von einem Testraum des Verhaltensforschers Harry Harlow inspiriert, der in den 1950er und 1960er Jahren Affekte von Menschenaffen untersuchte. Zum anderen spielt die Installation auf die abstrakten Bühnenbilder des Bildhauers Isamu Noguchi für Martha Graham, eine der wichtigsten Persönlichkeiten des Modern Dance, an. Gemeinsames Element sind die Untersuchung der Triebe – für den einen bedeutend bei der Verhaltensforschung von Affen, für die andere eine wichtige Kenntnis wenn es um den authentischen Ausdruck eines Tänzers geht. Im Eingangsbereich der Klee gewidmeten Halle bringt ein Zitat von Graham es auf den Punkt: „Bewegung lügt nie. Für die, die sie lesen können, ist sie ein Barometer für das Wetter der Seele.“ Choreografien bilden nach den Installationen die zweite Säule der Ausstellung, bei der Tänzer, hauptsächlich täglich zwischen 14 und 15 Uhr, die Teilnehmer auch mal zum Mitmachen auffordern. An dieser Installation beispielsweise zeigen sie, die ihren Körper in und auswendig kennen, dass sie keine Angst vor Gefühlsausbrüchen und Primatenverhalten haben – ob der zivilisiert zuschauende Schreibtischtäter anschließend zum Teilnehmer wird, hängt wohl von der persönlichen Hemmschwelle ab.

Vielleicht klingt MOVE nun nach einem großen Erwachsenenspielplatz. Aber hinter dieser spielerischen Experimentierfreude steckt durchaus Historisches, Soziologisches und vor allem natürlich – Künstlerisches: Nach dem Zweiten Weltkrieg war das Bedürfnis nach einer unmittelbareren Wahrnehmung der Welt entstanden – und in der Kunst wurde der geeignete Zugang dazu gefunden. In den 1960ern entstanden dann neben der Hippiebewegung die berühmten Happenings, die Konzeptkunst und der Minimalismus. Die Grenzen zwischen der bildenden und der darstellenden Kunst wurden aufgelockert, wenn nicht gar aufgehoben, und ähnliche Elemente parallel entwickelt. Neben Künstlern wie Bruce Nauman, Franz Erhard Walther und Franz West boten Robert Morris und Lygia Clark Zugang zu diesem revolutionären Ansatz. Letztere ging in ihrer Kunst sogar so weit, dass für sie ihre Installation nicht existierte, wenn der Zuschauer sich nicht – sowohl körperlich als auch geistig – aktiv auf sie einließ. Die Verknüpfung von geistigem Begreifen und körperlich-sinnlicher Erfahrung waren für sie eins im rezeptiven Prozess.

Diesen Ansatz entwickelten später u.a. Pablo Bronstein und Mike Kelley in sozialpolitisch kritischer Weise weiter. Das Kunstwerk bot nun nicht mehr nur eine Anleitung zu außergewöhnlicher Körpererfahrung, sondern eröffnete Möglichkeiten zu erkennen, inwiefern menschliches Alltagsverhalten physisch, psychologisch und räumlich choreografiert und manipuliert wird. In Kelleys eben vorgestelltem Werk wird der Teilnehmer beispielsweise zum Testobjekt, das seine Verhaltensweise selbst im „Labor“ beobachtet.

Auf nachhaltig beeindruckende Art und mit neun Großbildschirmen, die teils im Raum, teils an der Wand hängen, führt Ten Thousand Waves (2010) von Isaac Julien ins technische Zeitalter. In einer kompliziert erstellten Video-Choreographie werden drei chinesische Geschichten gezeigt: Der Ertrinkungstod einer Gruppe Muschelsammler, die Legende der Schutzpatronin für Seefahrer Mazu und der Filmklassiker Shen Nü (Die Göttliche, 1934). Und auch hier kommt es auf die Bewegungsintuition des Besuchers an, der sich von Bildschirm zu Bildschirm wandernd seine Rolle als zuschauender Teilnehmer selbst choreografieren muss.

Mehr zum historischen Kontext von Kunst und Tanz bietet die dritte Säule der Ausstellung: das sehr ansprechend aufbereitete Archiv. Über 170 Aufnahmen von Choreografien und Performances (auch Pina Bausch ist vertreten) sind auf Bildschirmen zu bewundern – ein außergewöhnlicher Fundus, den man stundenlang durchforsten könnte. Müde Beine kann man hier ausnahmsweise nicht bekommen, denn schließlich gibt es Walk the Chair (2010) von La Ribot. Die Stühle sind dazu gedacht, vom Besucher bewegt, gestellt, gelegt und sogar gelesen zu werden.

Was für eine wunderbare interdisziplinäre Ausstellung! Die bildende Kunst bietet den Rahmen, körperliche Grenzen zu testen und intuitive Bewegungen des Körpers zu erspüren, die Theorie niemals vermitteln kann. Die darstellende Kunst wiederum führt an der Hand der Tänzer zur bildenden. Natürlich gibt es in MOVE (einige wenige) befremdliche Werke, denn auch in der Tanzwelt ist nicht alles nachvollziehbar und bewegt gelegentlich zu schnellem Abwenden. Eine Kooperation mit dem formidablen Tanzhaus NRW wäre sicherlich auch angebracht gewesen. Mehr Negativpunkte fallen mir aber wirklich nicht ein. Ich kann eigentlich nur noch schreiben: MOVE to K20!

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