Paul Klee, Hundertsassa

1. September 2012

Paul Klee: “omphalo-centrischer Vortrag”, 1939, 690 (KK 10), Kreide und Kleisterfarbe auf Seide auf Jute auf Keilrahmen, 70 x 50,5 cm

In einer Rede über moderne Kunst im Jahr 1924 vergleicht sich Paul Klee (1879-1940) mit einem Baum. Informationen über die Umwelt, die „Orientierung in den Dingen der Natur und des Lebens“, nimmt er über die Wurzeln auf. Durch den Stamm fließen sie in die Krone, die für seine Kunst steht und „sich zeitlich und räumlich nach allen Seiten hin sichtbar entfaltet“. Zentraler Bestandteil dieser Metapher ist der kunstgeschichtlich gesehen moderne Gedanke, dass die Dinge nicht möglichst realitätsgetreu wiedergegeben, sondern vielmehr interpretiert und auf individuelle Weise dargestellt werden sollen. Klees Werk als die Baumkrone, die eben kein genaues Abbild ihrer Wurzeln ist, wird ab dem 29. September im K21 Ständehaus gezeigt.

In dieser Spannung zwischen Erde und Luft befindet sich Paul Klee, einer der Hauptvertreter der klassischen Moderne, auch in gesellschaftlichem Sinne. Er versucht zeitlebens, sich in der oberen Mittelschicht zu verwurzeln und ein entsprechend bürgerliches Leben zu führen. Obwohl sein Künstleranteil dies abfällig als „bürokratisch“ einstuft, ist er beispielsweise einer der wenigen Künstler, die selbst minutiös ein umfangreiches Werkverzeichnis anlegen. Der Öffentlichkeit stellt sich Klee als weltabgewandter Künstler dar und ist es in gewisser Weise auch: Er versucht stets, weiter in die Höhe zu wachsen und seine Zweige in alle Richtungen sprießen zu lassen, was für ihn vor dem bürgerlichen Leben Priorität hat. 1916 schreibt er: „Ich suche einen entlegenen schöpfungsursprünglichen Punkt, wo ich eine Art Formel ahne für Mensch, Tier, Pflanze, Erde, Feuer, Wasser, Luft und alle kreisenden Kräfte zugleich. Der Erdgedanke tritt vor dem Weltgedanken zurück.“ Der „Weltgedanke“, der im Abstrakten zu finden ist und in dessen Interpretationsspielraum die Chance und auch die Gefahr liegen, von Erdenkräften gepackt, abgebrochen und instrumentalisiert zu werden, gibt dem Künstler bis zu seinem Tod Halt.

Klees künstlerische Entwicklung, die der ersten Sprösslinge, beginnt mit Zeichnungen, Radierungen, Aquarellen und Druckgrafiken, wobei er hauptsächlich mit Kontrasten und Tonunterschieden arbeitet. Über die Künstler des Blauen Reiters lernt er 1912 Robert Delaunay kennen und bewundern – was dazu führt, dass Licht und Farbe in seinem Werk eine neue Rolle spielen. Klee malt nun abstrakter – geometrische Muster mit Feldern unterschiedlicher Farben – und erforscht mehr und mehr Bewegung, Statik und die Gleichzeitigkeit der Wahrnehmung. Dieses spielerische Komponieren von Farben und geometrischen Formen wird sich lohnen: Auf der legendären Tunis-Reise mit August Macke und Louis Moilliet im Jahr 1914 malt Klee souverän Aquarelle wie Rote u. weisse Kuppeln, das die Stadt Kairouan zeigt.

Ab 1919, dem Jahr, in welchem Klee es schafft, sich als Künstler zu verwurzeln, indem er den Generalvertretungsvertrag mit dem Galeristen Hans Goltz abschließt und somit nicht mehr auf das Einkommen seiner Frau Lily angewiesen ist, traut er sich auch zu, mit Öl zu malen.

Das deutsche Selbstbewusstsein ist derweil nach dem Ersten Weltkrieg auf einem Tiefpunkt angelangt. Der Galerist Alfred Flechtheim versucht, dem auf seine Weise, durch bildende Kunst, abzuhelfen: „Die Seele muß und wird die Kunst unser armes geschlagenes Deutschland wieder gewinnen.“ Er fördert deutsche Künstler, darunter auch Paul Klee, als dessen Galerist er 1927 bis 1933 tätig ist.

Klees Werktitel sind das Ergebnis seiner Liebe für Anspielungen, Zitate und Metaphern, hauptsächlich aus der Weltliteratur, und einer der Gründe dafür, dass sich seine Bilder im Ausland schwer verkaufen. Breite, weitverzweigte Interpretationsspielräume und Doppeldeutigkeiten sind eben für eine Übersetzung denkbar ungeeignet. Trotzdem ist das erste Kunstwerk, das der US-amerikanische Stahlindustrielle und unberechenbare Sammler G. David Thompson 1928 erwirbt, eines von Klee. Thompsons Sammlung wird nach dem Zweiten Weltkrieg eine entscheidende Rolle für das Land NRW spielen.

Klee, der als Kind zweier Musiker auch professionell Geige spielt, gelangt zu einer tieferen künstlerischen Einsicht in Form einer Analogie zwischen Malerei und Musik. In mathematischer Vorgehensweise stellt er Strukturen von musikalischen Kompositionen durch transparente, sich überlagernde Farbschichten, Stilmittel und andere Elemente in seinen Werken dar und bezeichnet das Verfahren als „polyphone Malerei“. Diese bildnerisch umgesetzte Vielstimmigkeit, diesen Zusammenklang unterrichtet er auch am Bauhaus (Weimar 1920-1925; Dessau 1925-1931). In sein Tagebuch schreibt er, immer auf der Suche nach der absoluten Gesetzmäßigkeit und wohl wissend, diese nur über die luftigen Höhen der Kunst ermitteln zu können: „Die Freimachung der Elemente, ihre Gruppierung zu zusammengesetzten Unterabteilungen, die Zergliederung und der Wiederaufbau zum Ganzen auf mehreren Seiten zugleich, die bildnerische Polyphonie, die Herstellung der Ruhe durch Bewegungsausgleich, all dies sind hohe Formfragen, ausschlaggebend für die formale Weisheit, aber noch nicht Kunst. Im obersten Kreis steht hinter der Vieldeutigkeit ein letztes Geheimnis, und das Licht des Intellekts erlischt kläglich.“

Klee empfindet die Lehrtätigkeit am Bauhaus als zu zeitintensiv und folgt 1931 dem Ruf der Kunstakademie Düsseldorf. Dort hat er vor, Wurzeln zu schlagen. Seine Professur ermöglicht es ihm, mehr Zeit in seine Kunst zu investieren. Doch schon zwei Jahre später wird er von dem nationalsozialistischen Blatt „Die rote Erde“ als „galizistischer Jude“ beschimpft und wenig später als „politisch unzuverlässig“ unbefristet vom Lehrdienst beurlaubt. Ein paar Monate später emigriert er in die Schweiz. Die angestrebte bürgerliche Lebensweise, aber auch die künstlerische Anerkennung in Deutschland hat er in seinen letzten Lebensjahren innerhalb kürzester Zeit verloren. Diesen entwurzelten Gemütszustand drückt er in einem Selbstporträt aus. Er nennt es Von der Liste gestrichen.

Zur Ideologie der Nationalsozialisten gehört auch, nach scheinbar biologisch begründbaren Kriterien zwischen „gesund“ und „krank“ zu unterscheiden. Auch die bildende Kunst kann dem nicht entgehen und so erhält die Ausstellung, die 1937 Deutschland bei freiem Eintritt zeigen soll, wie „Krankes“ aussieht, den Titel Entartete Kunst. Die Werke der Künstler, darunter auch beispielsweise Klees Sumpflegende (1919), tragen weder Namen noch Titel, dafür Parolen wie „Verrückt um jeden Preis“ und „Wahnsinn wird Methode“. Die Hängung wird bewusst unvorteilhaft gestaltet, die moderne Kunst als bedrohlicher, gesichtsloser Brei inszeniert. Auch die Presse ist entsprechend effektiv, so prangert beispielsweise der „Völkische Beobachter“ die „entarteten“ Künstler an als „der kalt rechnende Intellekt, der jede Form zerlegt, zerfasert, ihr alle Lebendigkeit, alles Organische mit furchtbarer Überwachheit allmählich aussaugt, (…) der dann zu geometrischen und stereometrischen Formen greift und mit ihnen artistisch jongliert (…) und in die unsinnlich und unsinnig gehäuften Trümmer von mathematisch-technischen Konstruktionen verbunden mit den Fragmenten natürlicher Vorstellungen die erstaunlichsten Dinge hineinsieht.“

Paul Klee stirbt ein Jahr nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. Sein Spätwerk, welches er im Schatten einer schweren Erkrankung erschafft, ist zeichenhaft verschlüsselt und erinnert an kindliche Malerei. Der Künstler sucht weiter nach der Formel im Weltgedanken und setzt grafische schwarze Formen, Abkürzungen figürlicher Elemente, auf farbige Flächen. Dieser „Infantilismus“, wie sich harsche Kritiker mokieren, ist für Klee vielmehr eine Form höchster Abstraktion. Die Fähigkeit, etwas Komplexes wie einen Menschen nur mithilfe von wenigen Linien darzustellen und dabei etwas Grundlegendes über ihn auszusagen, beherrscht er angesichts des Todes exzellent.

Als der Zweite Weltkrieg vorbei ist, gründen die britischen Besatzer das Land Nordrhein-Westfalen. Sie einen die Provinz Westfalen (Hauptstadt: Münster) mit dem Norden der Rheinprovinz (Hauptstadt: Düsseldorf). 1947/48 kommt noch Lippe dazu (Hauptstadt: Detmold). Düsseldorf wird Landeshauptstadt. Die Zusammenführung gestaltet sich aufgrund der unterschiedlichen Mentalitäten als schwierig, zumal die Münsteraner den Düsseldorfern die Hauptstadtstellung neiden.

Zehn Jahre später stirbt in den USA der Sohn des Kunstsammlers G. David Thompson. Ein Jahr darauf versucht dieser, dem Carnegie Museum in Pittsburgh seine Sammlung unter der Bedingung zu schenken, ein frei stehendes Gebäude mit seinem Namen dafür zu errichten. Sein Angebot wird abgelehnt. Beide Ereignisse zusammengenommen könnten der Grund dafür sein, dass Thompson kurz danach sowohl 70 Werke von Alberto Giacometti als auch 100 Werke von Klee veräußert – alle an den Baseler Kunsthändler Ernst Beyeler, der einen wesentlichen Beitrag für die Gründung der Kunstsammlung NRW leisten wird.

Münster und Düsseldorf konkurrieren auch auf der Ebene der bildenden Kunst: 1960 bei einer Ketterer-Auktion um Werke von Christian Rohlfs, wobei es vielmehr um das höhere Budget als um die Kunst selbst geht. Der Sieger, Oberregierungsrat Dr. Matthias T. Engels, triumphiert: „Ich hatte von meiner Regierung ein Limit von 45.000 Mark, Pieper konnte nur bis 40.000 Mark.“

Der rheinische Ministerpräsident, Dr. Franz Meyers (CDU), geht derweil einen radikaleren Weg und gründet fast schon eigenmächtig eine Landessammlung, ohne die Genehmigung weder vom Plenum noch vom Hauptausschuss des Landtags einzuholen. Er weiß, dass die Münsteraner nicht mitziehen werden. „Der Spiegel“ zitiert 1960 aus seiner Rede im Schlösschen Jägerhof: „Im Einverständnis mit allen Fraktionen des Landtags hat die Landesregierung mit dem Ankauf der Paul-Klee-Sammlung nunmehr den ersten Schritt zum Aufbau einer landeseigenen Staatsgalerie zeitgenössischer Kunst getan.“ Was noch nicht einmal beschlossen worden ist, wird durch das Handeln eines Einzelnen offiziell.

Der Kunsthändler Ernst Beyeler verkauft also 88 Werke von Klee aus der Sammlung G. David Thompson an das Land NRW für 6,5 Millionen D-Mark. Finanziell gesehen eine prestigeträchtige Investition des Landes: Die regelrechte „Kunstexplosion“ der 1960er, vor allem in den USA, hypt hauptsächlich Künstler, die von den Nationalsozialisten als „entartet“ bezeichnet worden sind. Auf dieser Basis baut Werner Schmalenbach eine herausragende Sammlung moderner Kunst auf. Zu ihrem 50. Geburtstag schenkt sich die Landessammlung 2011 ihr 100. Werk von Paul Klee: Polyphone Strömungen (1929).

Gute Kunst kann sich im Gegensatz zu ihrem Schöpfer nicht gegen ihre Instrumentalisierung wehren: Die abgeschnittene Baumkrone ist dann vielfältig einsetzbar, als Pionierwerk der modernen Kunst, Rettung der nationalen Seele oder der eines Sammler- oder Politikeregos, Eintrittskarte in gesellschaftliche Kreise, Veranschaulichung einer „Entartung“, Macht- und Druckmittel, Beitrag zu einem Hype, vereinigendes Identitätsmerkmal und als Fundament einer international bekannten Landessammlung. All das und zusätzlich 100 Weltgedanken konzentrieren sich in Paul Klees umfassendem Werk.

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