Kitsch me if you can

1. Februar 2013
Die Gäste meiner Party zum Thema Kitsch …

Die Gäste meiner Party zum Thema Kitsch …

Im Kitschroman verliebt sich die rehäugige Krankenschwester mit glänzender, kastanienbrauner Haarmähne Hals über Kopf in den Chefchirurgen, der sein Herz nach einer großen Liebesenttäuschung vor der Welt verschlossen hat. Massenhaft versorgt uns die Industrie mit rosa Federpuscheln an Bleistiften, Schneekugeln mit Glitter, Putten, Häkelhauben für Toilettenpapierrollen (teilweise sogar mit einer Barbie oben drauf), blinkenden Dekoartikeln mit Farbwechselfunktion, kleinen Schornsteinfegern im Kleearrangement, Winkekatzen und Wackeldackeln. Eine bekannte Kaffeemarke verkauft in einigen ihrer Filialen statt Kaffee lieber „Wohnfühldecken“, Fingergymnastikbälle, Teleskop-Schuhanzieher, LED-Stimmungslichter und Staubtiere. Offenbar gibt es für derartige Objekte einen absatzstarken Markt. Mit der Industrialisierung begann eben die Massenproduktion und nur mit dem Verkauf des Produzierten lässt sich die Wirtschaft ankurbeln. Jetzt, da jeder mittelständische Haushalt über die grundlegendsten Luxusartikel verfügt, muss man anders Rohstoffe verschwenden, um mittels Kaufkraft eine Steigerung unseres Luxus’ vorzutäuschen. Dabei nutzt die Industrie unseren Konflikt zwischen dem Wunsch nach maximaler Bequemlichkeit und unserem Drang, uns ununterbrochen zu perfektionieren. Mit echten Bedürfnissen hat das nichts mehr zu tun. Es ist Kitsch.

Beim sisyphusartigen Versuch, Kitsch zu kategorisieren, zeigt er sich mit einem kreativen Hang zur Grenzüberschreitung: Da wären der patriotische Kitsch (die Flagge der USA ist die sicherlich am häufigsten eingesetzte), der Revolutionskitsch (Che-Guevara-Tasse), Religionskitsch (blinkende Jesus-Statuen und knallbunte Heiligenbilder), Urlaubs-Ethno-Kitsch (kann man etwas Nicht-Kitschiges aus dem Urlaub mitbringen?), Retrokitsch (Omi lässt grüßen), der sentimentale Kitsch (Porzellanengelchen), Kontextkitsch (ein Hirschgeweih hängt statt in der Almhütte im Reihenhaus über dem Fernseher), Esoterikkitsch (Buddhastatuen in Pink oder Staub- … äh… Traumfänger). Der DUDEN definiert: Kitsch ist ein „geschmacklos empfundenes Produkt aus einem bestimmten Kunstverständnis heraus“. Moment. Geschmacklose Kunst ist Kitsch? Was für eine Steilvorlage für einen kleinen Diskurs.

Bekanntermaßen lässt sich über Geschmack streiten, denn er ist eine sehr subjektive Angelegenheit. Die Interpretation eines Kunstwerkes sagt meist mehr über den Interpreten als über das Werk aus. Man kann letztendlich in allem eine tiefere Bedeutung sehen oder sie ihm schlichtweg verweigern. Der Geschmack des „Camp“ beispielsweise hält die ästhetische Form, die stilvolle (kitschige?) Ausführung für wichtiger als den Inhalt. Insofern kann, wie Oscar Wilde formulierte, ein Türgriff ähnlich wie ein Gemälde bewundert werden. Susan Sontag erklärt in diesem Zusammenhang, „dass es einen guten Geschmack des schlechten Geschmacks gibt“. Man kann aber noch so viele Definitionstorsionen einbauen: Geschmack ist und bleibt relativ. Auch der Markt interpretiert nach seinen eigenen Regeln und teilt uns durch Ausstellungshäuser, Kuratoren und Kunstkritiker mit, was er für Kunst und was für Kitsch hält. Etablierte Künstler haben einen Markt, ihre Werke werden gekauft. Wenn diese, wie beispielsweise die von Jeff Koons, kitschig sind, werden sie schlicht als Kommentar zum preiswerteren Kitsch verstanden. Und können, auf den Kunstsockel gehoben, trotzdem noch achtstellige Preise erzielen. Falls das nicht hilft – ein teureres Material als Plastik oder Porzellan schafft Abhilfe. Damien Hirst trieb es auf die Spitze und verkaufte den glitzernden, überaus kitschigen Totenschädel For the Love of God (2007) für 75 Millionen Euro. Im Ramschladen hätte man sich, ohne seinen materiellen Wert zu kennen, voller Abscheu mit dem Ausruf „ist das kitschig!“ abgewendet. Schlauerweise ließ Hirst ihn jedoch in Platin gießen und mit 8.601 reinen Diamanten von mehr als 1.800 Karat besetzen. Teuer ist jedoch nicht gleich wertvoll. Kitsch als Kunst zu propagieren, ist wie eine Doktorarbeit über Texte von Andrea Berg zu schreiben. Man kann sich auch das Dschungel-CAMP anschauen und daraus eine fundierte Sozialstudie machen. Man kann es aber auch bleiben lassen.

Meine Recherchen ergeben weitere Gemeinsamkeiten der beiden so gern als „Gegenpole“ bezeichneten Kategorien: Kitsch hat keine praktische Funktion (hat Kunst meist auch nicht), er besteht aus Stereotypen und Klischees (Koons’ Serie Banality enthält nichts anderes), er ist Massenware und leicht produzierbar (in Andy Warhols Factory wurde doch sicherlich Kunst produziert?!) und er durchbricht keinen Erwartungshorizont (das kann man von komplizierter Konzeptkunst auch nicht gerade behaupten). Natürlich trifft nicht jeder der aufgezählten Aspekte auf jedes Kunstwerk zu, trotzdem wurde auch so nicht widerlegt, dass die endgültige Einschätzung, was Kunst und was Kitsch ist, vom Geschmack beziehungsweise von den Interessen des Konsumenten abhängt.

Für den Kunstkritiker Clement Greenberg gab Kitsch (im Jahr 1939) vor, „von seinen Käufern nichts zu verlangen außer ihrem Geld – nicht einmal ihre Zeit.“ Ich behaupte jedoch Folgendes: Kitsch raubt uns unseren klaren Blick. Am Anfang ist er so wohltuend für Herz und Seele wie süße Schokolade, die man ja ab und an tatsächlich genussvoll zu sich nimmt. Aber nach übermäßigem Konsum stellt sich eine Art Kater ein, der nach mehr von dem Zeug verlangt und dabei lieblich schnurrt. Das Schnurren übertönt die Gedanken um den Zustand der Welt. Es täuscht uns etwas vor. Und plötzlich wissen wir – eingelullt, wie wir sind – ganz sicher: Alles ist gut, alles ist schön, und alle Menschen sind nett.

Natürlich ist Kitsch ein Produkt unserer Kultur, das man auch als solches würdigen sollte. Vielleicht schaut man sich gerne, sagen wir, die bunten Bilder von Hundertwasser oder die Salonmalerei des 19. Jahrhunderts an. Eine amüsante Sammlung an kitschigen Werken beziehungsweise geschmackloser Kunst zeigt übrigens das Museum of Bad Art (MOBA) in der Nähe von Boston. Online zu begehen unter www.museumofbadart.org. Aber ganz ehrlich: Auf Dauer wird es langweilig – oder man selbst zu einem Nerd.

Der bekannte Strafverteidiger Ferdinand von Schirach schildert in seinem Buch Verbrechen den realen Fall eines Wächters eines städtischen Antikenmuseums, der versehentlich nicht in das obligatorische Rotationssystem aufgenommen worden war und sich dadurch zum Nerd par excellence entwickelte. Er musste 23 Jahre lang in einem Raum Wache schieben, in welchem sich ein Dornauszieher befand: Die Skulptur stellte ein bildhauerisches Motiv der Antike dar – ein nackter Knabe, der versucht, aus seinem Fuß einen Dorn zu ziehen. Im Laufe der Jahre entwickelte der arme Wächter eine Art Obsession und versuchte mit einer zweifelhaften Methode, die Qual des Knaben (und seine eigene) zu erleichtern. Er platzierte gelbe Reißnägel in Schuhen eines Schuhgeschäftes; sein Schlafzimmer tapezierte er lückenlos mit Fotos von Menschen, die sich besagte gelbe Reißnägel aus dem Fuß zogen. Und eines Tages explodierte der Wächter: Mit einem ohrenbetäubenden Schrei zerschlug er die Statue. Die Beschäftigung mit ein und derselben Sache muss nicht immer derart dramatisch enden, aber die Geschichte zeigt dennoch eindrücklich, wie die einseitige, extremistische Konzentration auf eine Dimension enden kann.

Um noch einmal eine kulinarische Metapher zu verwenden: Geschmack reift in Kombination mit Interesse, Aufmerksamkeit und Intelligenz wie guter Wein. Das hat zwar etwas Versnobtes, aber irgendwann kann man das kopfschmerzbereitende Süßliche, die abgedroschenen Schablonen und das hohle Pathos nicht mehr ertragen. Irgendwann muss was Herzhaftes her, so etwas wie anspruchsvolle Kunst. Sie enthält mehrere Dimensionen, ist ambivalent, erzeugt Zwischentöne und verlangt differenzierte Reflexion sowie Verständnis für Ironie. Doch Vorsicht! Anders, als uns weisgemacht wird, kann man Kunst, die einen in ein Reich der Zwischentöne entführt, an beiden Händen abzählen (auch wenn eine davon die Eintrittskarte für ein Museum hält). Oder man ist eben noch so betäubt vom Shoppen, Privatfernsehen und Konservierungsstoffe-In-Sich-Hinein-Stopfen, dass man lieber gesagt kriegt, was man sich unbedingt noch anschauen muss, um mitreden zu können.

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