Farbige Gedanken

1. Juni 2012

Wir nehmen Farben wahr, weil elektromagnetische Wellenlängen zwischen 380 und 780 Nanometer auf die Sehnerven unserer Netzhaut treffen und anschließend vom Zentralnervensystem zu einem Farbeindruck verarbeitet werden.

Ganze Gesellschaften sind darauf angewiesen, dass dieser Sinneseindruck für jeden Menschen derselbe ist. Sonst könnten wir soziokulturelle Konventionen nicht buchstäblich farblich kennzeichnen. Die Ampel mit rotem, gelbem und grünem Licht regelt den Verkehr oder bietet sich als Metapher für eine politische Koalition an.

Auch wenn wir einen Standpunkt vertreten, bekennen wir – ja, Farbe. Wir trauern schwarz, Japaner weiß. Weiß tragen wiederum traditionelle Bräute in Deutschland, in China tragen sie Rot, in Ägypten Gelb. Dem Himmel entnehmen wir bei Unwahrheit das Blau, Außenseiter bezeichnen wir als schwarze Ziegenartige, und obwohl das Grün keinen Bildungsgrad besitzt, streichen wir im Geiste Teile des Skalps junger Menschen mit dieser Farbe an.

Wir benutzen Farben, um uns zu orientieren, Weichen zu stellen, Strukturen festzulegen. Das ist wichtig. Aber wir dürfen ihnen nicht blind folgen. Denn eigentlich ist die Farbwahrnehmung eine sehr subjektive Angelegenheit, bei der uns das Gehirn auch mal Streiche spielt.

Mit der Art und Weise, wie wir Farben im Zusammenhang mit anderen wahrnehmen, spielten die Pointillisten. Statt Farben zu mischen, setzten sie einen Punkt neben den anderen. Zwar leidet darunter die Erkennbarkeit der Motive, aber durch den Simultankontrast entsteht eine gesteigerte Farbwahrnehmung, die nur in einer bestimmten Kombination zu erreichen ist. Komplementäre Farben ergänzen sich in unserer Wahrnehmung, wenn sie nebeneinanderstehen: Rotblaue Muster erkennen wir aus der Entfernung als violett. Und dann gibt es sogar Menschen, die Rot und Grün nicht unterscheiden oder Farben gar nicht erkennen können.

Wenn es nicht unsere physiologische Anlage ist, mischt unser Geist kräftig bei der Farbwahrnehmung mit. Meiner hat Vokale immer schon mit Farben versehen. Das A sehe ich absolut gelb, das I eindeutig rot, das O braun und das U lila. Nur das E zeigt sich mir etwas undefiniert, es ist mal grün, mal grau, mal blau. Wassily Kandinsky, Mitglied des Blauen Reiters, verlor sich geradezu in seiner Begeisterung für ein tiefes Blau, welches in ihm das „Unendliche, die Sehnsucht nach etwas Reinem und schließlich nach etwas Übersensiblem“ weckte. Ein helleres Blau zeigte sich ihm dagegen „abweisend und seelenlos“. Für Goethe verfügte diese Farbe ebenfalls über metaphysische Eigenschaften, jedoch gab sie ihm eher Rätsel auf: „Es ist etwas Widersprechendes von Reiz und Ruhe im Anblick.“

Wie jede Form des Fremden birgt auch die unterschiedliche Farbwahrnehmung, sei sie nun physisch oder geistig bedingt, ein gewisses Konfliktpotenzial. Denken wir nur, um ein gemäßigtes, aber trotzdem komplexes Beispiel zu nennen, an die ewige Diskussion zwischen Mann und Frau. Für ihn ist das Sofa orange, für sie apricot.

Die Vielfalt der Farben, ihre Schattierungen und unterschiedlichen Formen der Wahrnehmung stehen jedoch allem voran für Lebendigkeit. Die Kunst lehrt uns, dies zu verstehen. Grau und EIN-tönig sind der totalitär überwachte Mensch in George Orwells 1984 sowie die Zeitdiebe in Michael Endes Momo. Das Licht, dessen spektrale Zusammensetzung als Farbe wahrgenommen wird, appelliert dagegen an die Sinne. Um ein Beispiel aus der Malerei zu nennen: Die Lichtführung mit ihrem Ergebnis der unterschiedlichen Schattierungen modelliert die Form, schafft Solidität und lässt, wie der Franziskaner Ugo Panziera im 14. Jahrhundert schrieb, die Verkörperung Christi im Geiste stattfinden („incarnato“) – und zwar erst nach der Zeichnung und den schattierten Umrissen.

Ein Perspektivenwechsel aus stupidem Farbsehen gelingt nur, indem man aus der gewohnten Sehweise heraustritt. Im Jahr 1914 unternahmen August Macke, Paul Klee und Louis Moillet gemeinsam eine Reise nach Tunesien. Diese bescherte ihnen einen ganz neuen Farbeindruck, der sich auch in ihren Bildern bemerkbar machte. Sie lernten die Farben so sehr zu schätzen, dass sie sie auch, anders als bisher, ohne Zeichnung direkt auf die Leinwand auftrugen. Nach Mackes Tod, fünf Monate nach der Reise, schrieb Franz Marc über ihn: „Wir Maler wissen gut, daß mit dem Ausscheiden seiner Harmonien die Farbe in der deutschen Kunst um mehrere Tonfolgen verblassen muß und einen stumpferen, trockeneren Klang bekommen wird. Er hat vor uns allen der Farbe den hellsten und reinsten Klang gegeben, so klar und hell, wie sein ganzes Wesen war“.

Herr Marc, sind Farben der Ausdruck des Wesens eines Menschen? Und kann man im Umkehrschluss sagen, dass Farben unser Wesen beeinflussen? Wenn das der Fall ist, dürfen wir die Rolle unserer individuellen Wahrnehmung nicht unterschätzen. Und auch nicht die unserer kulturellen Färbung. Denn was wir so selbstverständlich als gegeben hinnehmen, muss nicht immer das Gelbe vom Ei sein. Manchmal ist es auch nur das Weiße.

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