Deutsch-polnische Dynamik

1. November 2012

Anna Czerlitzki vor Oskar Dawickis “Telezakupy”, Foto privat

Initiative, die: Substantiv, feminin. Fähigkeit, aus eigenem Antrieb zu handeln. Czerlitzki, Anna: 1984 in Polen geboren, in Deutschland aufgewachsen, Studium der Kunstgeschichte, Heirat mit einem Polen, gemeinsamer Sohn. Beide zusammengenommen ergibt W1111, eine spannende binationale Ausstellung.

Ein halbes Jahr lang ist Anna Czerlitzki immer wieder nach Warschau gereist und in die Kunstszene der Hauptstadt Polens eingestiegen. Sie empfand die Stadt, in der einerseits Kapital und Business die Strippen ziehen und andererseits, mehr noch als in Lodz, Krakau und Posen, Polens Künstler wirken, als vital und pulsierend.

In der Worringer Straße 57 in Düsseldorf betrete ich einen Raum mit Charakter. Einen, den man sich auch nach Jahren noch merkt. Nicht nur, weil ich nach zwei Stunden durchgefroren bin bis auf die Knochen – trotz der riesigen Heizung, die ich kurz mit einem Kunstwerk verwechsle. Der erste Stock des Industriegebäudes bedeckt nur die Hälfte des Erdgeschosses, man kann, von einem weißen Geländer zurück gehalten, hinunter schauen. Von der Decke hängen Stahlstreben, das Gemäuer ist sehr präsent, ebenso wie der Holzboden. Authentisch ist das hier, geht mir durch den Kopf. Und weit – viel Platz, den dieses Jahr auch schon Katharina Grosse und ihre Klasse zu schätzen wussten. In einer Ecke stehen vereinzelt Pflanzen um einen schlichten Schreibtisch gruppiert. Es handelt sich um Relikte einer Performance von Konrad Smoleński. Irgendwann müssen sie wieder zurückgegeben werden, aber Kuratorin Anna Czerlitzki weiß gar nicht mehr so genau, wem welche gehören.

Der Eindruck, den die Warschauer Kunstszene auf Czerlitzki gemacht hat, war so nachhaltig, und die polnischen Künstler so begeistert von einer Ausstellung in Deutschland, dass sie nach Möglichkeiten suchte, die fixe Idee in die Tat umzusetzen. Nicht zuletzt hat sicherlich das internationale Renommee der polnischen Künstler die schnelle Unterstützung begünstigt: Es fielen Namen großer Ausstellungsorte wie Guggenheim Museum, Biennale von Venedig, Tate Modern, Manifesta, Palais de Tokyo und MUMOK. Unaufhörlich kamen Interessierte hinzu und halfen begeistert mit, sodass schnell ein Verein gegründet wurde: Transmission e.V. Lilian Schmieder erklärte sich bereit, die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zu übernehmen. Annemarie Hahn und Julia Reich kamen ebenfalls hinzu. Prof. Dr. Stefan Schweizer, Juniorprofessor am Institut für Kunstgeschichte der Heinrich-Heine Universität, war eine wertvolle Anlaufstelle, der polnische Konsul Jakub Wawrzyniak vermittelte Kontakte. Das Polnische Institut half bei der Erstellung des Konzeptes. Die Stadt Warschau sorgte für finanzielle Unterstützung und übernahm den Transport der Werke. Mit Geldern der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit konnten die Miete und Teile der künstlerischen Produktion gezahlt werden. „Wir hatten manchmal mehr Glück als Verstand“, erinnert sich Anna Czerlitzki lächelnd. Vielleicht war es gar nicht so viel Glück und vielmehr eine gute Idee, die viele Menschen als solche erkannt haben. Mittlerweile hat der Verein 40 Mitglieder.

Im Gespräch stellt Czerlitzki immer wieder Warschau und Düsseldorf gegenüber. Sind es Klischees, ist es tatsächlich so? Deutsche Künstler seien oft abgebrüht, arbeiteten formaler. Polnische dagegen zeigten sich leidenschaftlicher, politischer, narrativer. In Warschau sei es schwierig, ein Atelier zu finden, dafür seien genug Ausstellungsflächen vorhanden. Wenn ein Künstler es in eine der wenigen Galerien Polens geschafft habe, dann gehe es schnell mit dem internationalen Durchbruch. Düsseldorf sei etabliert, aber klein. Seine Künstler blieben oftmals im wohlgepflegten, gehegten Düsseldorfer Umfeld. Czerlitzki vermutet, dass es an der Masse liegt, an der Masse der Künstler, die von der Akademie abgehen, und an der Masse der Galerien. Und sie wirft eine Frage auf, deren Antwort sie eigentlich schon gegeben hat: Schmoren wir hier in Düsseldorf im eigenen Saft? Ich denke mir unwillkürlich ein Wort dazu: selbstgenügsam. Dem möchte Transmission e.V. ein „internationales Kollektivbewusstsein“ entgegensetzen.

W1111 – die Zahl entspricht der Entfernung der Strecke Düsseldorf-Warschau – sollte den Künstlern Freiheit ermöglichen. Für Oskar Dawicki, in der polnischen Kunstszene bekannt wie ein bunter Hund, ideal; er reagiert ungern auf Vorgaben der Kuratoren und möchte auch gar nicht institutionalisiert werden. Vielmehr fällt er unter die Kategorien „avantgardistisch“ und „kommerziell nicht erfolgreich“. In Telezakupy (2007) thematisiert Dawicki dieses paradoxe Künstlerleben – die finanzielle Not einerseits und den künstlerischen Reichtum andererseits. Die tragikomische Arbeit erinnert mich an Clowns, zum Totlachen und eben auch so berührend wahr, dass hinter der Lustigkeit die Traurigkeit unaufhörlich stichelt.

Magdalena Kita, sowohl die einzige Künstlerin, die beiden Nationalitäten angehört, als auch die Einzige, die sich mit dem dunkleren Kapitel der deutsch-polnischen Beziehungen auseinandergesetzt hat, legt mit Der weiße Partisane (2012) den Fokus auf die Täter-Opferrollen im Zweiten Weltkrieg. Dass nicht vorrangig der Holocaust, sondern vielmehr die aktuellen Beziehungen zwischen Deutschland und Polen thematisiert werden, hat Transmission e.V. übrigens 8.000 € Preisgeld vom Ministerium für Bundesangelegenheiten, Europa und Medien beschert.

Liv Schwenk setzt zwar nicht ausschließlich auf die Gegenwart, spielt jedoch mit dem Raum vor Ort. Zuerst sehe ich nur zwei Katheten eines Dreiecks, dann erkenne ich fast geisterhafte Bewegungen. Die Künstlerin hat sich während der Installation selbst aus zwei Perspektiven gefilmt. Das Ergebnis wird nun an genau denselben Ort projiziert, wodurch die Installation zu einem Gedankenspiel mit der vierten Dimension verführt.

Agnieszka Kalinowska zeigt eine Arbeit in Zusammenarbeit mit dem Graffitisprayer BM, in welcher sie mit Kunst und Beton, Innen- und Außenraum spielt. Das Künstlerduo Giulia Bowinkel und Friedemann Banz überführen die klassische Moderne in digitale Dimensionen. Agnieszka Kurant untersucht Dinge, die unsichtbar sind, aber trotzdem einen Teil unseres Alltags ausmachen, zum Beispiel Stille und Inseln, die es nur in unserer Vorstellung gegeben hat. Anna Molska greift Die Weber von Gerhart Hauptmann auf – das Drama spielt in Schlesien, das bis 1945 zum Deutschen Reich, heute aber zu Polen gehört. Juergen Staack beteiligt sich mit einer Soundinstallation. Zu sehen sind außerdem Arbeiten von Martin Pfeifle, Giulietta Ockenfuß und Seb Koberstädt.

Polen ist in NRW derzeit sehr präsent und bemüht sich, nicht mehr als Exot, sondern als Nachbar wahrgenommen zu werden. Im Rahmen der Kultursaison Tam’Tam 2011/2012 haben bis Januar dieses Jahres Veranstaltungen von Künstlern aus Nordrhein-Westfalen in Polen stattgefunden. Mit Klopsztanga. Polen grenzenlos NRW waren dann von April bis Juni 20 Städte NRWs die Gastgeber. Weiterführende Projekte laufen immer noch, darunter nun auch die Ausstellung W1111, auf die das Publikum bestens vorbereitet sein dürfte.

Transmission e.V. muss die Räumlichkeiten Ende November wieder verlassen, denn dann wird das Gebäude abgerissen. Sowieso tritt nun wieder die Phase ein, die Anna Czerlitzki am Anfang zu dem Projekt inspiriert hat: das Eintauchen in die Kunstszene anderer Städte. Vielleicht Brüssel oder Paris? Czerlitzki kann sich auch eine niederländische Stadt vorstellen, denn über die lebendige Kunstszene dieses Nachbarlandes gebe es hier auch viel zu wenig zu sehen. Auch ist ein Performancefestival für 2014 angedacht. Welches Projekt auch als Nächstes angegangen wird – eins ist sicher: Diesmal werden von Anfang an viele mit dabei sein.

 

Transmission e. V. – Gruppenausstellung: “W1111″, bis 25.11.12

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