Woanderskunst

8. Januar 2014
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Maskenrund im Bereich „ZwischenWelten: Rituale“, Themenparcours „Der Mensch in seinen Welten“, Rautenstrauch-Joest-Museum – Kulturen der Welt, Foto Atelier Brückner/Michael Jungblut

Auch wenn Worte sehr machtvoll sind – meist sind es Bilder, die sich in unser (Unter-)Bewusstsein fräsen und unsere Meinung prägen. Die Kirche zum Beispiel nutzte eine altertümliche Laserversion, um ihre Botschaft zu vermitteln: Wenn Licht durch die religiösen Glasmalereien einer Basilika schien, begriffen die Gläubigen sofort, in welche Ordnung sie hineingeboren waren. Wahrscheinlich aber haben schon die Fenster einer mittelgroßen Kirche gereicht, um in Gottes Auftrag zu verkünden, dass man in dieser Ordnung auch zu bleiben hat. Wenn heute das Licht durch die Fenster des Kölner Doms scheint, fühle ich mich zugleich frei und orientierungslos – Gerhard Richters gegenstandslose Farbquadrate sind nach dem Zufallsprinzip angeordnet.

Ich suche nach weiteren Anhaltspunkten und bleibe in Köln, nicht ganz so weit vom Dom. In der Cäcilienstraße 29-33 befindet sich das einladende Rautenstrauch-Joest-Museum für Völkerkunde, welches 1901 aus der Privatsammlung des Forschungsreisenden Wilhelm Joest (1852-1897) hervorging. Seine Schwester Adele, verheiratet mit dem Kaufmann Eugen Rautenstrauch, finanzierte nach seinem Tod den Bau des Gebäudes in der Kölner Südstadt, in dem das Museum über 100 Jahre lang beherbergt war. Der Umzug in die Cäcilienstraße im Jahr 2008 schaffte nicht nur bedeutend großzügigeren Platz für die aktuell 60.000 Objekte aus Ozeanien, Afrika, Asien und Amerika, sondern inspirierte die Kuratoren darüber hinaus, eine unübliche Aufteilung vorzunehmen. Der Parcours ist nun nicht mehr nach geografischen Gesichtspunkten strukturiert, sondern folgt zwei Themensträngen, die erforschen, wie die Welt vom Menschen gestaltet und wie sie von ihm erfasst wird – natürlich nicht nur in der sogenannten „westlichen Zivilisation“. Bei der großartigen Präsentation fällt es leicht, sich darauf einzulassen, wie unterschiedlich die Menschen weltweit mit Wohnräumen, Kleidung und Körperschmuck, Tod, Religion und Ritualen umgehen und somit die Welt gestalten. Außerdem vermittelt das Museum eindrücklich, wie wir die Welt zu erfassen und zu begreifen versuchen: durch Schemata. Die Fremdbilder, die sich die Menschen während der Kolonialzeit zurechtlegten, halfen ihnen ebenso die Welt zu vereinfachen, wie uns heute unsere Vorurteile gegenüber Menschen aus anderen Kulturkreisen dazu dienen. Im Rahmen dieses Themenkomplexes untersuchen die Kuratoren darüber hinaus zwei unterschiedliche Ansätze der Vermittlung: Einerseits gewähren Gegenstände in Verbindung mit aufbereiteten Informationen Einblicke in fremde Kulturen (Die Welt in der Vitrine: Museum); andererseits laden Werke aus aller Welt ohne Erläuterung ihrer Funktion den Besucher dazu ein, sich auf ihre Betrachtung einzulassen (Ansichtssachen?!: Kunst). Beide Dauerausstellungen stehen gleichwertig nebeneinander und werfen die Frage auf, was eigentlich „nur“ ein völkerkundlich interessantes Objekt und was darüber hinaus noch Kunst ist.

Das Verständnis von Kunst verändert sich nicht nur, wenn man Kilometer zurücklegt, sondern auch, wenn Jahre verstreichen. Im 18. Jahrhundert hatte Kunst aus europäischer Sicht vor allem eine Eigenschaft: Sie wurde von Europäern erschaffen – obwohl sich zu diesem Zeitpunkt schon viele Entdecker aufgemacht hatten, fremde Kulturen zu erforschen. Natürlich brachten sie auch Erzählungen, Gegenstände und Bilder dieser Kulturen mit in die Heimat. Stereotype wie die des „polygamen, menschenfressenden Kriegers“, des „naiven Wilden“ und der „schönen Polynesierin, die stets zu Geschlechtsverkehr bereit ist“ entstanden und wurden selten hinterfragt. Letztendlich sagten diese Objekte jedoch weniger über die entsprechende Kultur aus, als vielmehr über diejenigen, die sie mitgebracht hatten. Ist ein Volk zwangsläufig ein kriegerisches, wenn die Entdecker ausschließlich Speere erbeuteten? Im Laufe der Zeit bewirken Vereinfachungen, die zunächst der Orientierung dienen, oft das Gegenteil: den Verlust des Durchblicks. Im Falle der Kolonialzeit legitimierten sie ein Zweiklassensystem und stellten die Weißen automatisch über Völker mit anderer Hautfarbe. 1889 beispielsweise fand mit der 10. Weltausstellung in Paris auch die erste Kolonialausstellung statt, deren Hauptattraktion ein menschlicher Zoo war. Es ist überflüssig zu erwähnen, dass die Kunst dieser Völker nicht als solche anerkannt war, sondern höchstens als „Kuriosum“ eingestuft wurde.

Heutzutage erzielt Kunst, die nicht aus Europa oder den USA stammt, nur vereinzelt Höchstpreise. Auch im Kunstkompass ist sie unterrepräsentiert: In den Top Ten 2013 landen vier Deutsche, drei US-Amerikaner, ein Däne und eine Schweizerin. Lediglich der Südafrikaner William Kentridge durchbricht die Westkünstlermauer. An kunsthistorischen Instituten werden fast ausschließlich Lehrveranstaltungen zu Themen der westlichen Kunst angeboten. Immerhin: Kunst aus anderen Erdteilen ist als solche weitestgehend anerkannt. Das mag zum einen mit dem wirtschaftlichen Wachstum dieser Länder zusammenhängen. Zum anderen aber auch mit einem Kunstbegriff, der nicht mehr vornehmlich geografisch geprägt ist. Ein anderes Merkmal – die unterschiedlichen Ansätze der Vermittlung im Rautenstrauch-Joest-Museum lassen es bereits anklingen – verhindert derweil, dass Kunst aus wirtschaftlich ärmeren Ländern in gleichem Maße anerkannt wird: Kunst wird in den meisten Fällen lediglich ästhetisch wahrgenommen, frei nach dem Grundsatz der Moderne „L’art pour l’art“. Wir schauen uns Kunst an, lassen sie wirken, denken uns etwas dabei (oder auch nicht) und gehen nach Hause.

Verliert jedoch ein Objekt den Anspruch, Kunst zu sein, weil es „angewandt“ wurde? Auch (Stammes-)Künstler anderer Kulturkreise sind versierte Handwerker, sie sind Holz- und Elfenbeinschnitzer, Metallgießer, Steinhauer, Töpfer. Dennoch dauerte es bis in die 1950er-Jahre, bis sich durch den Ethnologen Franz Boas und sein kulturrelativistisches Konzept ein universeller Kunstbegriff etablierte, der auch die Kunst anderer Völker mit einschloss: Nach Boas entsteht sie durch das Bedürfnis ihres Schöpfers nach „besonderem Ausdruck“, „besonderem Bemühen“ oder „besonderem technischen Vermögen“.

Um Kunst als solche zu etablieren, können vor allem Künstlerkollegen als Katalysator wirken – so wie Anfang des 20. Jahrhunderts geschehen, als sich die Szene für Künstler aus außereuropäischen Gefilden öffnete. Unter denjenigen, die über den Tellerrand schauten, waren Expressionisten, Fauvisten, Kubisten, Dadaisten und Surrealisten. Ein Beispiel: In den 1920er-Jahren wurde in Paris und New York Rindenstoff, genannt Maro, aus der Region des Sentani-Sees und der Yos Sudarso Bay (im heutigen West-Neuguinea, Teil der Republik Indonesien), ausgestellt. Zum ersten Mal trat Maro als „Kunst“ auf, denn die Rindenstoffe waren gerahmt und an der Wand als Einzelstücke angebracht worden. Zuvor hatte man sie höchstens als Hintergrund für ethnologisch interessante Objekte verwendet.

Die französischen Surrealisten inspirierten diese Maro in höchstem Maße. Stets auf der Suche nach einer Ausdrucksweise für Träume, für das Unbewusste, für Absurdes wie Fantastisches, forschten sie nach Alternativen für die europäische dualistische Logik. Gegensätze wie Leben und Tod, Reales und Erfundenes, hoch und niedrig sollten nebeneinanderstehen können, ohne sich auszuschließen. In den Zeichen und Symbolen der ozeanischen Völker sahen die Surrealisten damals einen Ausweg aus alteingesessenen künstlerischen Strukturen.

Auch politisch steuerten sie gegen die von sich überzeugten Kolonialherren an, deren Weltbild gemeinhin als „richtig“ galt. In Anlehnung an die damals übliche Weise, Weltkarten zu zeichnen – und zwar mit einem überdimensionierten, zentral gelegenen Europa – veröffentlichte der Surrealist Yves Tanguy 1929 in der Kulturzeitschrift „Variété“ eine anders angepasste. Ozeanien nahm dort einen ausnehmend großen Platz ein. André Breton (1896-1966), führender Surrealist, schrieb 1948 rückblickend: „Ozeanien! Was für einen Nimbus hat dieses Wort im Surrealismus besessen. Es war einer der großen ‚Schleusenwärter’ unseres Herzens.“

War diese Karte nicht besonders realitätsnah, so hatte sie doch in einem Punkt recht: Ozeanien ist riesig und macht ein Drittel der Erdoberfläche aus. Am Eingang der aktuellen Sonderausstellung des Rautenstrauch-Joest-Museum Made in Oceania: Tapa – Kunst und Lebenswelten zeigt Ocean III (2010) von Andreas Gursky, dass es selbst per Satellit nicht möglich ist, den gesamten Erdteil mit nur einer einzigen Aufnahme einzufangen. Wegen der Erdkrümmung sind da schon mehrere aneinandergereihte Satellitenaufnahmen sowie Internet- und künstlich erzeugte Bilder nötig. Ob es sich hierbei um eine realitätstreue Abbildung handelt und der Bearbeitungsdrang nicht zu groß war, ist jedoch, wie häufig bei Gursky, fraglich.

Laut Rautenstrauch-Joest-Museum haben alle Einzelteile dieser überdimensionalen Region die „pazifische Identität“ und damit auch den Stoff aus der inneren Rinde des Maulbeerbaums (und nicht die gleichnamige spanische Esskultur) gemein: Tapa. Dieser Rindenbaststoff ist in Ozeanien von Melanesien über Fidschi bis Polynesien vertreten, auch heute noch. Und anhand dieses multifunktionalen, großflächigen, zerbrechlichen und schwierig auszustellenden Materials zeigt das Museum auf 1.400 m2 eine kohärente Ausstellung, die zeitliche, geografische und künstlerische Extreme vereint.

Die ältesten historischen Originalobjekte stammen von den Entdeckern James Cook (1728-1779) und Georg Foster (1754-1794). Repräsentative Beispiele für die Behandlung und Nutzung von Tapa in den entsprechenden Regionen, damals wie heute, stehen für den völkerkundlichen Aspekt. Die Auswahl reicht von einer bestickten Tanzschürze mit traditionellem Muschelgeld, zeitgenössischer Mode bis hin zur „Fiji Times“. Rund 35 Werke zeitgenössischer Künstler aus Polynesien und Melanesien vertreten die Kunst der Gegenwart. Beispielhaft für die horizonterweiternde Sehschule durch viele beeindruckende Arbeiten möchte ich den samoanisch-neuseeländischen Künstler Fatu Feu’u nennen, der als Gründer der polynesischen Kunst gilt.

Die im 19. Jahrhundert stattgefundene Begegnung der so unterschiedlichen Kulturen, die wir hauptsächlich aus der europäischen Perspektive kennen, wird in der Ausstellung um eine nicht ganz unwichtige Perspektive ergänzt: diejenige der Polynesier. Michel Tuffery, ein neuseeländischer Künstler mit samoanischen Wurzeln, zeigt mit seiner Installation First Contact seine Sicht auf die Kolonialisierung. Die Neuseeländerin Shigeyuki Kihara, die bereits eine Einzelausstellung im New Yorker Metropolitan Museum of Art vorweisen kann, hinterfragt angelehnt an die historische Studiofotografie des 19. Jahrhunderts ebendiese Stereotype: Sie inszeniert sich selbst, in Tapa gekleidet, als Frau, Mann und Zwitterwesen.

In einem Rutsch werden in dieser Ausstellung die Entdeckung Ozeaniens künstlerisch wie völkerkundlich aus beiden Perspektiven erzählt, die Entstehung von Stereotypen hinterfragt sowie regionale Beispiele für die Behandlung und Nutzung von Tapa präsentiert. Nicht zuletzt ist es einfach auch interessant, den auf den Westen fixierten Blickwinkel zu erweitern und zu schauen, was jenseits unserer Festungsgrenzen künstlerisch vor sich geht. Und ich gelange zu der zynischen Feststellung: Durch die Kolonialisierung wurden Völker zwar häufig bis zur Unkenntlichkeit korrumpiert und ausgerottet, aber immerhin konnte in vielen Fällen ihre Existenz für die Nachwelt dokumentiert werden. Denn die meisten Naturvölker akzeptieren die Vergänglichkeit des Lebens und haben nicht unseren Impuls, Objekte aufzubewahren und zu klassifizieren. Dass es beim Erhalten völlig subjektiv zugeht und vieles von Einzelpersonen, Zufällen und menschlichen Beweggründen abhängt, liegt in der Natur der Sache. Das Rautenstrauch-Joest-Museum hat das einzig Intelligente daraus und aus dem eher unglücklichen Verlauf der Geschichte gemacht und ist sich auch in dieser Sonderausstellung treu geblieben. Alle Perspektiven kommen in ungewöhnlichen, treffenden Kombinationen zur Sprache, Wissen wird mit Kunst verbunden, das große Ganze dabei nicht aus den Augen verloren. So nistet sich nicht nur ein Bild in unser Unterbewusstsein ein, sondern es existieren mehrere gleichwertig nebeneinander.

 

Aus dem Umkreis: Rautenstrauch-Joest-Museum, Cäcilienstr. 29-33, Köln – Made in Oceania: Tapa – Kunst und Lebenswelten, bis 27.04.14

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