Endzeitstimmung

1. Oktober 2011

Die Endzeit: Naturkatastrophe, nuklearer Gau, die Herrschaft der Maschinen. Jedenfalls nicht: das Jüngste Gericht. Damit würde man heutzutage wohl eher eine kulinarische Modeerscheinung verbinden. Und trotzdem: Dantes Göttliche Komödie aus dem 12. Jahrhundert, die sich eingehend mit der katholischen Interpretation des Sujets „Leben nach dem Tod“ auseinandersetzt, gilt immer noch als Klassiker der Weltliteratur. Das Meisterwerk wird nicht nur von Literaturwissenschaftlern geliebt und gefürchtet, sondern inspiriert offensichtlich auch nicht so staubaffine Künstlerinnen wie Claudia Rogge. In ihrer 16-teiligen Serie EverAfter, die zurzeit in der Galerie Voss zu sehen ist, setzt sie sich zum wiederholten Male mit dem Thema Masse auseinander. Und diesmal ist diese jenseitig.

Auf Erden gibt es einen verhältnismäßig großen Handlungsspielraum. Man kann sich freiwillig eine Masse aussuchen – seien es virtuell organisierte Flashmobs, konsumentenverachtende Kartelle, grölende Fußballfanclubs oder Demonstrationen für die Freiheit eines Landes. Man kann sich entscheiden, darin unter zu tauchen oder sich dank Mode, Marken und Apps (oder vielleicht auch individuell) abzugrenzen und dies zu kommunizieren – bis hin zur durchaus gängigen, weltweiten, virtuellen Selbstentblößung.

Rogge zeigt uns jedoch in ihrer Jenseitsversion, in der sie barocke Gemälde zitiert: Sowohl in der Hölle, als auch in Fegefeuer und Paradies sind alle gleich und Abgrenzung ein Fremdwort. Man kann sich dort seinen Nächsten nicht aussuchen und ihm schon gar nicht entkommen. Dabei ist der Nächste nicht nur nahe, er rückt einem regelrecht auf die Pelle. Gut, dass die Künstlerin ihn zumindest äußerlich angenehm ausschauen lässt.

Vielleicht werden die Akteure deshalb dazu verführt, sich im Paradies einer der sieben Todsünden hinzugeben: der Wolllust, inklusive sodomitischer Perversion. (Wäre das auch der Fall, wenn sich dort Karl-Heinz, Margarete & Co. begegneten?) Auffallend ist dabei, dass die Gesichter kaum Emotionen in Bezug auf andere Lebewesen zeigen, unabhängig davon, in welchem Jenseitsbereich sie sich befinden. Trotz räumlicher Nähe und körperlicher Intimität scheint die Masse in keiner geistigen Beziehung zu stehen – was das Mittel der (Foto-)Collage wunderbar unterstreicht. Und so erklärt sich auch die Abwesenheit an Symbolik für schöngeistige, ätherische Zerstreuung, abgesehen von einer einsamen Zither in Paradise IV.

Das Fegefeuer in Purgatory II wird dominiert von ekelerregenden Fischen, ein Tier des Elements Wasser wohlgemerkt. Sie greifen mit offenen Mäulern aus dem Himmel an, während Menschen, die es dort übrigens nur 500 Jahre oder geringfügig länger aushalten müssen, ihre rohen Artgenossen buchstäblich zerfleischen. Auch hier ist jeder Mensch allein für sich und zerstört das urchristliche Symbol des ICHTYS. Unerwartet ästhetisch ist dagegen die Hölle, obgleich kaum Mitgefühl für andere auf den Gesichtern zu erkennen ist. Menschen im infernalischen Schlamm – die Substanz, in der sich alle suhlen, ist (farblich) beeindruckend und würde, trüge sie nicht die Konnotationen „böse“ und „ewig“, vielleicht sogar freiwillige Besucher anlocken.

In der Pressemitteilung heißt es, Rogges Bilder stellten die Frage nach „Zweck und Vermögen elegischer Bilder ohne den damaligen religiösen Nutzen“. Lassen wir einmal die Tatsache außer Acht, dass ein elegisches Bild nicht zwangsläufig religiös motiviert sein muss, und konzentrieren uns auf den Zweck der Bilder:

1) Darüber nachdenken, was Moral für uns bedeutet, wenn der Fall des Fegefeuers bzw. der Hölle nicht einträte. Muss man „gut“ sein, wenn es nach atheistischer Auffassung kein Jenseits gibt? Rogges Werke suggerieren ein eindeutiges „Ja“. Unsere moralischen Maßstäbe sind, ob wir wollen oder nicht, vom christlichen Glauben geprägt (was trotzdem nicht allein das „C“ der aktuellen Regierungspartei rechtfertigen sollte). Und Moral ist sinnvoll, wenn man auf einem übervölkerten Landstrich lebt und dieser übervölkert bleiben soll. Massen kann man eben nicht einfach aufeinander loslassen, denn der Mensch ist korrupt und opportunistisch. Wohin Morallosigkeit führt, demonstrieren die Menschen auf Rogges Werken mit hilflosen Blicken nach oben und ihrem Handeln nach dem Lustprinzip.

2) Die Beziehung der Menschen untereinander infrage stellen, vor allem, wenn sie in solch einer hohen Konzentration auftreten. Können sie sich nicht auf Leitung von oben verlassen, werden sie auf sich selbst zurück geworfen, müssen Verantwortung übernehmen und in Beziehung zum Mitmenschen treten. Idealerweise in eine Beziehung mit Qualität. Denn trotz Hunderter Facebook-Freunde heißt es noch lange nicht, dass man tatsächlich welche hat. Zur Einsamkeit von „oben“ gesellt sich so auch die Einsamkeit auf der Horizontalen.

3) Aufmerksamkeit. Denn, wie 1953 Hugh Hefner seltsamerweise überrascht feststellte: Sex sells.

Hat man sich erst einmal an die massige Nacktheit und Perversion gewöhnt, entdeckt man trotz vieler Details nur wenige ergreifende, weiterführende Hinweise, zumal alle Werke nach demselben Schema aufgebaut sind. Die Grundgedanken über die Notwendigkeit einer moralischen Instanz in unserer Zeit der Superlative und die zeitgleiche Einsamkeit des Einzelnen inmitten einer Gesellschaft, die kaum noch den fast schon altmodischen Begriff der Intimsphäre kennt, ist jedoch eine Auseinandersetzung wert, die umso leichter fällt, nachdem Rogges Bilder das Gedächtnis übervölkert haben.

 

Galerie Voss, bis 29.10.11

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